Kaum zu glauben, dass es immer noch Heldengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg gibt, die sich seitdem unter dem Radar verborgen haben. So wie die von Nicholas Winton, der 669 jüdische Kinder vor den Nazis gerettet hat und von dem der Regisseur James Hawes in seinem Film ONE LIFE erzählt…
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erfährt der junge Londoner Börsenmakler Nicholas Winton (Johnny Flynn) von den entsetzlichen Zuständen in den tschechischen Flüchtlingslagern. Ohne zu zögern reist er nach Prag und erlebt aus erster Hand, wie jüdische Familien auf der Flucht vor Verfolgung ohne Essen und ohne ein Dach über dem Kopf ihrem Schicksal ausgeliefert sind. Und so fasst er einen waghalsigen Plan: Mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter (Helena Bonham Carter) in London und einer Hilfsorganisation vor Ort gelingt es ihm, 669 Kinder per Zug nach Großbritannien zu schicken, bevor die Grenzen geschlossen werden.
1988, London: Auch Jahrzehnte später wird Winton (jetzt: Anthony Hopkins) immer noch vom Schicksal der Kinder verfolgt, die er nicht mehr retten konnte. Erst als die BBC-Fernsehshow „That’s Life“ die überlebenden „Winston-Kinder“ ausfindig macht und die unglaubliche Geschichte ans Licht bringt, kann sich der alte Mann seinem Kummer und den Schuldgefühlen stellen, die er so lange mit sich herumgetragen hat…
ONE LIFE ist ein Drama im klassischen Stil. Sicherlich wird es den einen oder die andere Zuschauer:in geben, die die Inszenierung als zu manipulativ erachten, aber das sollte uns nicht weiter kümmern. Ich kannte diese Geschichte bislang überhaupt nicht und habe mich gefragt, warum diese nicht schon viel früher verfilmt worden ist. Aber zu sehen, wie diesem heldenhaften Mann nach so langer Zeit die Ehre erwiesen wird, die er verdient, hat mich wirklich abgeholt. Gerade weil es von solchen Menschen auf dieser Welt viel zu wenige gibt. Und das Schöne: Der Film glorifiziert Nicholas Winton nicht, sondern feiert ihn als einen Menschen, der durch seinen unbändigen Glauben an das Gute schier Unmögliches vollbracht hat.
Als Nicholas Wintons Tochter Barbara der Produktionsfirma See-Saw Films ihr Einverständnis gab, ihr Buch „If it’s not impossible…“ zu verfilmen, engagierte man die Drehbuchautorin Lucinda Coxon. Diese wiederum suchte sich Unterstützung bei Nick Drake, mit dem sie schon öfter zusammengearbeitet hatte. „Das hat mich sehr erfreut. Nicht zuletzt, weil mein Vater und Großvater Flüchtlinge aus der ehemaligen Tschechoslowakei sind. Ich war sofort von der Möglichkeit hingerissen, eine Geschichte zu schreiben, die auch meine Familiengeschichte betrifft“, so Drake. Das Ergebnis ist ein Film, der eine außergewöhnliche Geschichte erzählt, gleichzeitig aber auch die Bescheidenheit seiner Hauptfigur hervorhebt.
Nicholas Winton starb 2015 im stolzen Alter von 106 Jahren, unglücklicherweise starb seine Tochter Barbara Winton während der Dreharbeiten. Ihr Sohn Nicky Winton verriet jedoch gerade in einem Interview, wie begeistert er von Anthony Hopkins Performance ist: „Nicht nur sein Gesicht, seine Kleidung, sondern die Eigenarten, die Art und Weise, wie er kleine Dinge tat, mit seiner Brille spielte, wie er geht, all das ist unverkennbar mein Vater“. Ein besseres Lob könnte ein Film wohl kaum erhalten.
ONE LIFE ist ein Film, der durch seine Bescheidenheit einem Mann gerecht wird, der um seine Taten selbst nie großes Aufgeben gemacht hat. Und wer weiß, vielleicht wird ja irgendein Zuschauer durch den Film selbst an seine Menschlichkeit erinnert. In einer Zeit wie der heutigen, in der wir zunehmend den Sinn für Anstand verlieren, ist das sicherlich nicht verkehrt.
One Life (Großbritannien 2023)
113 Minuten
Biographie / Drama
James Hawes
Lucinda Coxon, Nick Drake
Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Lena Olin, Romola Garai, Alex Sharp, Marthe Keller, Jonathan Pryce
SquareOne Entertainment GmbH