Das muss sich erst einmal jemand trauen: Die französische Regisseurin Céline Sallette zeigt in ihrer Künstler-Filmbiografie NIKI DE SAINT PHALLE das aufregende Leben der gleichnamigen Malerin und Bildhauerin, ohne ein einziges ihrer weltberühmten Objekte zu präsentieren. Das ist verblüffend – und verlangt Mut!
Die 1930 als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle in Neuilly-sur-Seine bei Paris geborene Frau gilt als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr unverwechselbares Markenzeichen waren ihre „Nanas“: lebensbejahende, fröhliche, knallbunte, meist tanzende, oft überlebensgroße, voluminöse Frauenfiguren. Wer eine dieser Skulpturen jemals gesehen hat, wird dies sein Leben lang nicht vergessen. Diese „Nanas“ sind schrill, provokativ, erotisch und oft auch obszön.
Wenn jetzt Céline Sallette mit ihrem Biopic genau zu dem Zeitpunkt aufhört, als Niki (Charlotte Le Bon) beginnt, diese Figur zu entwickeln, fragt man sich natürlich: warum? Die Antwort der Regisseurin: „Ich war an Nikis Metamorphose interessiert, und der Blickwinkel ihres Werks schien mir völlig angemessen. Es ging nicht darum, zu wissen, was der Betrachter von den Werken selbst halten würde, sondern darum, die Künstlerin in ihrer Katharsis aus nächster Nähe mit ihrer Schöpfung zu konfrontieren.“ Den Schlüssel dazu sah sie in Nikis schrecklicher Kindheit und in ihrer komplizierten ersten Ehe mit dem US-Schriftsteller Harry Matthews (John Robinson).
Niki wächst in den USA auf. Laut eigener Aussage wurde sie ab dem elften Lebensjahr von ihrem Vater André (Grégoire Monsaingeon) mehrere Jahre lang sexuell missbraucht. Um 1950 lässt die junge Niki alles hinter sich und zieht mit ihrem Mann Harry und ihrer Tochter nach Frankreich. Als Modell und Schauspielerin träumt Niki von einem besseren Leben in Paris. Aber die Dämonen ihrer Kindheit trägt sie stets mit sich: Irgendwann bricht Niki zusammen und wird eine lange Zeit in der Psychiatrie verbringen. Und ihre Ehe scheitert.
Doch die Kunst rettet sie. Sie beginnt als Malerin und macht mit sogenannten „Schießbildern“ erstmalig auf sich aufmerksam. Hierzu fertigt sie Gipsreliefs mit eingefassten Farbbeuteln an, auf die sie während der Vernissage mit Gewehren schießt. Und dann lernt sie den verheirateten Schweizer Maler und Bildhauer Jean Tinguely (Damien Bonnard) kennen und lieben. Erst 1971 können sie heiraten. Tinguely (1925-1991) war bekannt für seine beweglichen, maschinenähnlichen Skulpturen. Diese zweite Ehe entfachte in Niki neue Impulse, und sie wurde mit ihren „Nanas“ zu einer Symbolfigur der neuen Frauenbewegung. Der Rest ist Geschichte – doch die zeigt Céline Sallette nicht mehr…
Die Regisseurin konzentriert sich voll und ganz auf das Gesicht der sensationell agierenden Charlotte Le Bon. Diese atemberaubende schauspielerische Leistung ist eine Offenbarung. NIKI DE SAINT PHALLE ist das Psychogramm einer geschundenen Seele, die am Ende zu sich selbst findet. Niki stirbt 2002 in San Diego. Doch ihre Kunst bleibt. Wer eine konventionelle Filmbiografie über eine berühmte Künstlerin erwartet, sitzt im falschen Kino.
Niki de Saint Phalle (Frankreich / Belgien 2024)
99 Minuten
Biographie
Céline Sallette
Céline Sallette, Samuel Doux
Victor Seguin A.F.C
Charlotte Le Bon, John Robinson, Damien Bonnard, Judith Chemla, Alain Fromager, Virgile Bramly, Grégoire Monsaingeon, Nora Arnezeder, John Fou, Quentin Dolmaire, Hugo Brunswick, Eric Pucheu, Xavier de Guillebon, Romain Sandère
Neue Visionen Filmverleih GmbH