Menschliche Dinge

03.11.2022

Ein schreckliches Ereignis lässt zwei befreundete Familien zerbrechen – und das mitten in der #MeToo-Debatte. Das beklemmende Drama MENSCHLICHE DINGE von Yvan Attal ist am Puls der Zeit – und das unglaubliche 139 (!) Minuten lang. Der französische Schauspieler und Regisseur besetzte die weibliche und männliche Hauptrolle mit seiner eigenen Frau Charlotte Gainsbourg und seinem Sohn Ben Attal – und der sieht seinen Eltern so was von ähnlich. Diese persönliche Note verleihen dem bitterbösen Melodram einen zusätzlichen Kick.

Der 22-jährige Elite-Student Alexandre Farel (Ben Attal) reist aus dem kalifornischen Stanford nach Paris, um der Ordensverleihung seines Vaters Jean (Pierre Arditi), einem prominenten Fernsehjournalisten, beizuwohnen. Nach der Scheidung lebt Alexandres Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg), eine populäre Essayistin und streitbare Feministin, inzwischen mit Adam (Matthieu Kassovitz), einem Literaturprofessor, zusammen, gemeinsam mit Adams älterer, 17-jähriger Tochter Mila (Suzanne Jouannet). Bei einem Abendessen zu viert lernen sich die „Stiefgeschwister“ kennen, und Alexandre überredet Mila, mit auf eine Party zu gehen. Das streng jüdisch erzogene Mädchen zögert zunächst, kommt dann aber mit – sehr zur Freude von Claire und Adam: Endlich lernt das schüchterne Mädchen die Welt da draußen kennen.

Doch bei der Party muss etwas Schreckliches passiert sein: Am nächsten Vormittag steht die Polizei vor Jeans Wohnung und nimmt Alexandre fest. Mila hatte morgens Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet – und der 22-Jährige sitzt erst einmal in einer Zelle. In den ersten 48 Stunden darf er nur seinen Pflichtverteidiger Celerier (Benjamin Lavernhe) empfangen. In einer der ersten Szenen des Films hatten wir Alexandre bei einem Treffen mit seiner Ex erlebt, wie er ihr in der Bar sofort an die Wäsche will. Sein Sexualverhalten ist offensichtlich sehr locker und machohaft. Das macht ihn nicht unbedingt sympathisch – doch ist er auch zu einer Vergewaltigung fähig?

Regisseur Yvan Attal macht es dem Zuschauer nicht leicht, eine klare Position zu beziehen. Nach dem ersten Kapitel „Er“ folgt jetzt „Sie“, das aus Milas Sicht erzählt wird. Begleitet von ihrer Mutter Valérie (Audrey Dana) muss sie hochnotpeinliche Polizeiverhöre und die erniedrigende Untersuchung bei der Amtsärztin über sich ergehen lassen. Sie hat zwar keine äußeren Verletzungen davongetragen – doch auf ihrer Kleidung wurde Alexandres Sperma nachgewiesen. Es gab also einen sexuellen Kontakt – doch geschah dies in beiderseitigem Einvernehmen? Offenbar hatte Mila, als sich die beiden im Laufe der Party in eine Abstellkammer zurückzogen, nicht dezidiert „Nein“ gesagt.

Doch jetzt geschieht etwas Unglaubliches. Jeder Zuschauer denkt: Ab diesem Zeitpunkt beginnt das eigentliche Drama. Beispielsweise: Wie reagiert besonders die Feministin Claire auf das Verhalten ihres Sohnes? Oder: Wie zeigt der Regisseur den Zerfall zweier Familienstrukturen? Aber Yvan Attal lässt dies alles weg. Nach einem mutigen und fast schon provokanten Zeitsprung beginnt die nächste Szene am ersten Tag des Strafprozesses. Und bis zum Ende bleibt die Kamera – bis auf wenige Ausnahmen – in diesem Gerichtssaal. Jeder der Beteiligten darf sein Statement abgeben – auch der unerträgliche, sexbesessene Starjournalist Jean, der in der Zwischenzeit seine blutjunge Praktikantin geschwängert hatte und mit ihr zusammenlebt. Sein größtes Verdienst zur Affäre seines Sohnes war ein zynischer Twitter-Kommentar: „Das alles wegen eines Aktes von 20 Minuten!“ Autsch! Das Urteil lässt dann vieles offen…

Ein Gerichtsdrama – und das ist MENSCHLICHE DINGE im dritten Kapitel – kann sehr steril und langatmig sein. Doch auch diese schwierigen Sequenzen gelingen dem Regisseur mit ruhig fließenden Kamerabewegungen traumwandlerisch sicher. Und er hatte eine der besten Schauspielerinnen Frankreichs an seiner Seite: die eigene Frau Charlotte Gainsbourg. Ben Attal spielt den 22-Jährigen als einen (modernen?) Schnösel, dem alles erlaubt zu sein scheint. Und Suzanne Jouannet als scheue und trotzige Mila ist eine echte Entdeckung.

Manches an MENSCHLICHE DINGE mag ein wenig thesenhaft angelegt sein. Doch was soll’s? Die dramatische Wucht und die (trotz des bitteren Themas) poetischen Ansätze sind jederzeit spürbar.

Trailer

ab12

Originaltitel

Les Choses Humaines (Frankreich 2021)

Länge

139 Minuten

Genre

Drama

Regie

Yvan Attal

Drehbuch

Yvan Attal, Yaël Langmann, basierend auf dem gleichnamigen Bestsellerroman von Karine Tuil

Darsteller

Charlotte Gainsbourg, Mathieu Kassovitz, Ben Attal, Pierre Arditi, Suzanne Jouannet, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla

Verleih

MFA+ FilmDistribution e.K.

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