Regisseur Todd Haynes („Carol“, „Velvet Goldmine“) widmet sich in seiner stylischen Charakterstudie MAY DECEMBER der Beziehung zwischen einer jüngeren Person und einem sehr viel älteren Beziehungspartner (dies sagt der Filmtitel aus) – und hatte dabei wohl den Klassiker „Die Reifeprüfung“ im Hinterkopf. In den Hauptrollen glänzen die Oscarpreisträgerinnen Natalie Portman („Black Swan“) und Julianne Moore („Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“).
Die Hollywood-Schauspielerin Elizabeth Barry (Natalie Portman) fährt ins beschauliche Savannah, Georgia, um Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) kennenzulernen, die sie in einem Independentfilm verkörpern will. In den 90er-Jahren hat deren Affäre zum 13-jährigen Schüler Joe Yoo für hohe Wellen in der Boulevardpresse gesorgt und war ein regelrechter Skandal. Gracie ging dafür ins Gefängnis. 20 Jahre später sind Joe (Charles Melton) und Gracie noch immer ein scheinbar glückliches Paar, trotz des Altersunterschieds von 23 Jahren.
Ganz dem Method Acting verschrieben, begleitet Elizabeth ein paar Tage lang das Familienleben von Gracie. Beim gemeinsamen Ikebana-Kurs im Gemeindezentrum wird die Rolle studiert. Sie trifft sich mit Gracies Ex-Mann. Ins Recherchegespräch mit Gracies damaligen Anwalt platzt ihr Sohn Georgie (Cory Michael Smith) aus der ersten Ehe, der einen Nebenjob als Sänger in dem Café hat und ein damaliger Mitschüler von Gracies jetzigem Mann Joe war. Wir sehen schon, die Geschichte von MAY DECEMBER ist vielschichtig, und das für den Oscar nominierte Originaldrehbuch der Newcomerin Samy Burch verführt den Zuschauer mit seiner moralischen Doppeldeutigkeit zum aktiven Beobachten und Hinterfragen.
Der leicht verrauschte Look von MAY DECEMBER ist zwar gewöhnungsbedürftig, soll aber als Stilmittel verstanden werden, das an die Zeit der 80er-/90er-Jahre erinnert. Filmemacher Todd Haynes verhandelt Themen wie öffentliche Wahrnehmung, Identität und Selbsterkenntnis. Und er hat sein Handwerk gelernt: In einer denkwürdigen Szene zeigt Gracie – umringt von Spiegeln – Elizabeth, wie sie sich schminkt. Dieses Vexierspiel, in dem die Frauen sich immer ähnlicher werden, erinnert nicht von ungefähr an den Klassiker „Persona“ von Ingmar Bergman. Und Marcelo Zarvos nutzt Michel Legrands Musik für Joseph Loseys „Der Mittler“ von 1971 kombiniert mit seinen eigenen Kompositionen in einer tonalen Verspieltheit, die eine ganz andere Wirkung erzielt als die Musik bei traditionellen Melodramen.
Alle Personen in dem psychologisch tiefgründigen Bermudadreieck in MAY DECEMBER zwischen Elizabeth, Gracie und Joe müssen ihre Positionen nochmal überdenken. Joe sagt über Gracie: „Ich war anders. Sie hat mich verstanden.“. Seine beiden Kinder Charlie und Mary stehen mittlerweile kurz vor dem Highschool-Abschluss, Elizabeth ist bei den Vorbereitungen dabei und erlebt dort Gracies Art und Weise, mit der Tochter zu kommunizieren. Sie rühmt diese für den Mut, ein armfreies Kostüm zu tragen. Unterschwellig sagt sie Mary (Elisabeth Yu) damit aber, dass sie fett ist. Und Joe ist im gleichen Alter wie die Schauspielerin Elizabeth. Es kommt natürlich zur Annäherung.
MAY DECEMBER ist bereits Todd Haynes‘ sechste Zusammenarbeit mit seiner Muse Julianne Moore (u.a. „Safe“, „Dem Himmel so fern“ und „I’m Not There“). Und die Oscarpreisträgerin spielt wie eigentlich immer grandios. Natalie Portman imitiert sie, am Ende sehen wir Elizabeth in der Filmszene in der Zoohandlung, die zum Skandal wurde. Täuschend echt, aber auch etwas campy, verführt sie mit einer Schlange auf den Schultern den Jungen. Immer und immer wieder.
Die schauspielerische Entdeckung ist allerdings das junge Ausnahmetalent Charles Melton („Riverdale“) in der Rolle des korea-stämmigen Joe (völlig zu Recht war er für den Golden Globe nominiert). Sein Charakter trägt auch zur Vielschichtigkeit der subtilen, unkonventionell erzählten Sozialstudie MAY DECEMBER bei: Er züchtet die mittlerweile „stark gefährdete“ Spezies des Monarchfalters (vom Ei zur Raupe und dann Puppe, bevor der Schmetterling schlüpft). Dies steht natürlich sinnbildlich für die Metamorphose, die auch die Hauptfiguren durchmachen.
May December (USA 2023)
118 Minuten
Drama / Komödie
Todd Haynes
Samy Burch
Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Cory Michael Smith, Elizabeth Yu, Gabriel Chung, Piper Curda, D.W Moffett, Lawrence Arancio
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