Zum Kinostart seines neuen Films VIRGIN MOUTAIN haben wir den isländischen Regisseur Dagur Kári in hamburg zum Interview getroffen. Am Tag zuvor wurde der Film bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, zudem erhielt Hauptdarsteller Gunnar Jóhnsson eine lobende Erwähnung.
Unsere Kritik zu VIRGIN MOUNTAIN gibt es hier.
Dagur Kári ist Regisseur, Schriftsteller und Musiker und wurde am 12. Dezember 1973 als Dagur Kári Pétursson im französischen Paris geboren, wuchs aber in Island auf. Von 1995 bis 1999 studierte er Film an der National Filmschool of Denmark in Kopenhagen. Seinen ersten Film veröffentlichte er im Jahre 2003 mit dem Titel NÓI ALBINÓI, außerdem ist er die eine Hälfte des musikalischen Duos „snowblow“. Aktuell steht er der Regiesparte der National Filmschool of Denmark in Kopenhagen vor.
Fúsi ist eine Figur, wie man sie nicht oft in Filmen sieht. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film über einen solchen Aussenseiter zu machen.
Es fing alles mit dem Schauspieler Gunnar Jóhnsson an. Er war Nebendarsteller in einer populären Comedy-Show im isländischen Fernsehen. Von der ersten Sekunde an war wir klar, dass er eine einzigartige Präsenz und ein unglaubliches Talent hatte. Daher wollte ich einen Film mit ihm machen, in dem er nicht der kleine Nebendarsteller in einer Komödie ist, sondern derjenige, der einen dramatischen Film trägt. Diese Idee trug ich immer in meinem Kopf, während sich meine Karriere entwickelt hat. Ich habe meinen ersten Film (Nói albinói, 2003) in Island gedreht, den zweiten in Dänemark (Dark Horse, 2005) und den dritten in den USA (Ein gutes Herz, 2009). Während der ganzen Zeit schlummerte diese Idee in meinem Gedächtnis herum. Vor vier Jahren war ich dann auf einem Flughafen in Island und wartete auf meinen Flug. Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich diese kleinen Fahrzeuge, die um die Flugzeuge herumfuhren und wie Spielzeugautos wirkten. Ich stellte mir diesen gigantischen Mann in einem dieser kleinen Fahrzeuge vor und das war dann so etwas wie der Startpunkt des Projekts. Gleichzeitig war dieses Bild aber auch ein wichtige Metapher des Films, weil es ja um einen erwachsen Mann geht, dem es nicht gelingt, aus seiner Kindheit auszusteigen. Daher habe ich es auch gleich als erste Szene des Filmes benutzt. Während ich auf meinen Flieger wartete, kam die gesamte Geschichte buchstäblich auf mich zugeflogen.
Ich war aber auch sehr leichtsinnig, denn ich habe zwei Jahre damit verbracht, das Drehbuch zu schreiben, bevor ich ihm überhaupt davon erzählt habe. Zu dem Zeitpunkt arbeitete er als Koch auf einem Frachter in der baltischen See. Es war gar nicht so einfach, überhaupt mit ihm in Kontakt zu treten. Aber es gelang mir, ihm das Drehbuch zu mailen und zum Glück hat er dann zugesagt. Ich hätte den Film niemals gemacht, wenn er abgesagt hätte, schließlich hatte ich es ausschließlich für ihn geschrieben.
Gunnar Jóhnsson liefert aber auch eine unglaubliche Performance ab. Zu Recht fand er bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck eine besondere Erwähnung.
Ja, er ist ein wirkliches Naturtalent. Ich habe noch nie mit einem Schauspieler gearbeitet, der ein solch tiefgründiges Verständnis darüber hat, wie man sich vor einer Kamera verhält und wie wenig man benötigt, um Emotionen zu vermitteln. Das war für mich eine einzigartige Erfahrung.
Normalerweise neigen Filme, in denen es um eine Boy-Meets-Girl Geschichte geht, immer dazu, sehr vorhersehbar zu werden und sich auf Klischees zu verlassen. Sie haben genau das nicht gemacht und das macht den Film vermutlich auch so besonders. Warum haben Sie diese Entscheidung getroffen?
Das war mir sehr bewusst. Wenn sich eine Frau und ein Mann in einem Film treffen und sich sehen, dann schaltet die Geschichte sehr schnell auf Autopilot um. Ich mag überhaupt keine Liebesfilme, weil diese immer so vorhersehbar sind. Also war es meine Mission, all diese Klischees aufzubauen, nur um sie dann wieder niederzureißen. Es gibt hier das Klischee der Liebesgeschichte oder das Klischee des vermuteten Kindesmissbrauchs, aber wenn Du denkst, Du weißt, wie es weitergeht, macht die Geschichte eine Wendung. Ich erfülle die Klischees nicht, ich baue sie auf, um mich dann davon abzuwenden.
Wir neigen oftmals dazu, die Menschen aufgrund ihres Erscheinungsbildes zu verurteilen und mit unserem immer schneller werdenden Lebensstil nehmen wir uns auch immer weniger Zeit, um solche Menschen näher kennenzulernen. War es ihre Absicht, das zu kritisieren und die Leute dazu zu bringen, darüber verstärkt nachzudenken?
Ja, ich möchte den Menschen gerne zeigen, wie wir alle dazu neigen, uns unsere eigene Geschichte über Menschen auszudenken, basierend auf oberflächlichen Fakten. Wenn man zum Beispiel eine Figur wie die von Gunnar Jóhnsson im Film sieht, die zwei Meter groß ist, 250 Kilogramm wiegt, sowie Armee-Klamotten und einen Pferdeschwanz trägt, dann habe wir sofort unsere ganz eigene Vorstellung, was für ein Art Mensch dieser Typ ist. Ich möchte das gerne aufbrechen und zeigen, dass sich hinter all diesen oberflächlichen Merkmalen ein tiefsinniger Mensch befindet. Ich möchte, dass die Menschen kurz innehalten und darüber nachdenken, denn wir verurteilen Menschen viel zu schnell.
Wo haben Sie den Film gedreht und war die Location wichtig für die Geschichte?
Wir haben in Reykjavik gedreht, aber die Umgebung war für den Film nicht so wichtig. Schließlich ging es ausschließlich um ihn. Im Film verurteilt Fúsi die Dinge nicht, er nimmt sie einfach hin. Daher war das auch für mich die Herangehensweise. Ich habe keine Locations ausgewählt, weil sie schön waren sondern hatte denselben nicht wertenden Ansatz beim Dreh, den er auch hat. Island ist in einer sehr privilegierten Position, da Ausländer sehr neugierig auf das Land sind. Sie wollen Island unbedingt sehen. Gleichzeitig haben sie aber auch diese märchenhafte Vorstellung vom Land und den Leuten. Sie wollen seltsame Menschen in wunderschönen Landschaften sehen. Dem wollte ich irgendwie entgegenwirken. In diesem Film geht es um Fúsi und er wurde für den Schauspieler Gunnar Jóhnsson geschrieben. Wenn es sich um einen belgischen Schauspieler gehandelt hätte, dann hätte ich den Film in Antwerpen gedreht.
Da wir gerade über Island sprechen: Obwohl das Land sehr klein ist, scheint es dort eine sehr lebendige Filmszene zu geben. Ich habe in den letzten Jahren sehr viele wunderbare Filme von dort gesehen, z.B. STURE BÖCKE von Grímur Hakonarson oder – einer meiner Lieblingsfilme – LIFE IN A FISHBOWL von Baldvin Zophoníasson. Was macht die Filme aus Island so besonders?
Ich weiß es nicht, das ist so etwas wie ein kleines Wunder. Island hat gerade mal 330.000 Einwohner, das entspricht etwa einer Kleinstadt in Deutschland. Stellen Sie sich einmal vor, dass aus einer Kleinstadt neun Filme im Jahr kommen, oder fünfzehn weltbekannte Rockbands, ein Symphonieorchester und ein Nationaltheater. Das macht eigentlich keinen Sinn, aber vermutlich ist genau das der Schlüssel. Wenn man in Island lebt, sollte eigentlich gar nichts möglich sein, aber auf eine seltsame Art und Weise hat man das Gefühl, dass alles möglich ist. Es liegt diese rohe, kreative Energie in der Luft und die Menschen machen Dinge trotz aller Widrigkeiten möglich. Aber ich weiß nicht, warum.
Gibt es denn eine spezielle Organisation, die Filme fördert?
Ja, so wie alle skandinavischen Länder hat auch Island sein Film Institut, das die Filme fördert. Im Grunde genommen haben wir sogar zwei davon. Natürlich hätten wir gerne mehr Geld, schließlich haben Ökonomen bewiesen, dass es sich nicht um eine Unterstützung handelt, sondern vielmehr um ein Investment. Für jeden Euro, den man in einen isländischen Film investiert, bekommt man sieben Euro zurück.
Wurden diese Fördermittel nicht zu Beginn des Jahres gerade zurückgefahren?
Ja, aber das ist schon immer das Problem gewesen, denn es gibt kein beständiges Verständnis darüber, was es bedeutet, Filme in Island zu drehen. So hängt die Fördermenge immer von der Regierung ab und ist mal größer und mal kleiner. Aber letztendlich ist sie eigentlich nie ausreichend.
Ihr letzter Film THE GOOD HEART (Ein gutes Herz, 2009) war ihr englischsprachiges Debut und für VIRGIN MOUTAIN sind sie jetzt wieder nach Island zurückgekehrt. Was war der Grund dafür? Und wie würden sie eine internationale Produktion mit einer Produktion in Island vergleichen?
Keiner meiner bisherigen Karriereschritte war berechnet. Ich habe immer nur auf die Figuren und die Geschichte gehört und wohin sie die Figur bringen will. Vom ersten Moment an habe ich die Geschichte von THE GOOD HEART auf englisch und für New York geschrieben, weil der Film genau das gebraucht hat. Aber ich wollte immer nach Island zurückkehren, weil das für mich immer etwas Besonderes ist. Ich bin jetzt seit fünfzehn Jahren Filmemacher und hatte nur einen Film in Island gedreht. Aber ich liebe es, dort zu arbeiten, da es dort eben diese rohe und kreative Energie gibt, die sich sehr von Amerika unterscheidet. Dort hat man dieses riesige Mittelfeld aus Agenten und Managern, daher ist die Arbeit in Island wesentlich effektiver, weil man die Leute kennt, mit denen man arbeiten möchte. Wenn man die Leute anruft und fragt, ob sie dabei sein wollen, dann bedeutet ein Ja auch wirklich Ja und ein Nein auch wirklich Nein. In Amerika hingegen kann ein Ja vielerlei Bedeutung haben. Ich habe mehr als drei Jahre damit verbracht, herauszufinden, was ein Ja bedeutet.
Der Film hieß zuerst ROCKETMAN, jetzt ist es FÚSI oder international VIRGIN MOUNTAIN. Können Sie etwas über diese Titel erzählen? Was hat Sie zur Auswahl oder zur Änderung gebracht?
Der Song ROCKETMAN von Elton John spielte im Original-Drehbuch eine sehr wichtige Rolle, daher hieß der Film anfangs auch so. Leider hat Elton John uns aber die Rechte an der Nutzung des Songs verweigert. Das war aber eine glückliche Fügung, denn am Ende hatten wir einen wesentlich besseren Song: ISLANDS IN THE STREAM (Kenny Rogers und Dolly Parton).
VIRGIN MOUTAIN habe ich mir einfallen lassen, da die Marketingleute uns geraten haben, einen anderen Titel zu finden. Sie waren der Meinung, dass es ein Film aus einem exotischen Land mit einem exotischen Titel schwer haben würde, die Märkte penetrieren. Mir gefällt der Titel, denn er hat etwas poetisches, beschreibt aber gleichzeitig auch die Hauptfigur sehr gut.
Wie sind Sie überhaupt zum Filmemachen gekommen?
Ich war als Kind schon sehr kreativ und als Teenager entwickelte sich meine Kreativität in viele Richtungen. Ich spielte in einer Rockband, ich habe fotografiert und sehr gerne geschrieben. Ich habe mir aber irgendwann überlegt, dass es besser ist, EINEN Pfad zu verfolgen. Ich musste mich auf eine Sache konzentrieren, um in irgendetwas gut zu sein. Ich konnte einfach nicht auf all diesen Hochzeiten tanzen. Die Entscheidung war aber ziemlich schwierig für mich, weil die Musik, das Fotografieren und das Schreiben über alles liebte. 1989 gab es denn ein Film Festival in Reykjavik, wo ich zum ersten Mal Filme von Aki Kaurismäki, Wim Wenders oder Jim Jarmush gesehen habe. Dort habe ich erkannt, dass ich weiterhin vielfältig kreativ sein kann, wenn ich ein Filmemacher werde. Im Prinzip war das eigentlich eine Entscheidung dafür, keine Entscheidung treffen zu müssen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich das Filmemachen auch jederzeit sein lassen könnte und ein Schriftsteller oder ein Musiker werden könnte.
Sie arbeiten gerade an der National Filmschool im dänischen Kopenhagen. Können Sie mir verraten, was Sie dort genau machen?
Ich bin sehr glücklich, dass mich die National Filmschool of Denmark damals akzeptiert hat, denn das war meine Ausbildung. Im Moment bin ich der Leiter der Regiesparte an derselben Schule. Es ist ein sehr inspirierender Job und jetzt wo ich es bereits durch die Hälfte meiner Karriere geschafft habe, fühlt es sich gut an, wieder zurück zur Schule zu gehen. In dem einen Jahr als Lehrer habe ich mehr gelernt, als in den vier Jahren als Student.
Was sind denn Ihre nächsten Projekte?
Ich habe da zwei bis drei Projekte im Auge, eines in Dänemark, eines in Island und ein sehr experimentelles. Es ist jedoch ziemlich schwierig für mich, die Zeit zu finden, diese Geschichten auch zu schreiben, schließlich habe ich einen Vollzeitjob und zwei kleine Kinder. Es ist durchaus frustrierend, sich nicht auf die eigenen Dinge konzentrieren zu können. Aber ich fühle, dass es jetzt die richtige Zeit ist, um das zu tun, was ich tue. Daher warte ich einfach auf eine Lücke in meinem Kalender, um diese Filme zu schreiben.
Ich freue mich bereits jetzt darauf. Vielen Dank für das Interview.
Das Interview haben wir am 8. November 2015 in Hamburg geführt.