Harvest

22.05.2025

Regisseurin Athina Rachel Tsangari zählt zu den Vorreiter:innen der „Neuen griechischen Welle“ und schuf mit „Attenberg“ 2010 ein kleines Filmjuwel. Hauptdarstellerin Ariane Labed gewann den Coppa Volpi in Venedig, und Meisterregisseur Yorgos Lanthimos spielte auch mit. Nach der etwas enttäuschenden Buddy-Komödie „Chevalier“ von 2015 folgt nun zehn Jahre später mit HARVEST die Geschichte von einer Dorfgemeinschaft, die unter dem aufkommenden Kapitalismus zerbricht.

Die Bewohner eines abgelegenen Dorfes leben von Viehzucht und Feldarbeit. Gedreht wurde HARVEST bei Oban (Schottland), aber Ort und Zeit der Handlung werden nicht genannt. Am Morgen nach der Ernte will sich die Gemeinschaft auf den Weg zu einem wohlverdienten Mahl machen, doch in der Nacht hat ein Brand die Nebengebäude des Gutsbesitzers zerstört. Und schon hier offenbart sich: Die Bilder sind teilweise extrem dunkel, es ist fast nichts zu erkennen!

In der Verfilmung des gleichnamigen Romans HARVEST von Jim Grace versucht sich die griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari im Stil eines Western an der Kreation einer dichten Atmosphäre zwischen der üppigen Schönheit der Natur und dem düsteren Schrecken. Und ja, die Arbeit auf dem Feld wird fast gemäldeartig bebildert von Sean Price Williams. Aber die Kamera wackelt auch ganz gehörig und erinnert somit an „Bird“ (2024) von Andrea Arnold, ohne dessen virile Dringlichkeit zu erreichen.

Der Plot von HARVEST ist eigentlich simpel: Ein Dorf kämpft ums Überleben. Wir nehmen sieben Tage vornehmlich die Perspektive von Walter „Walt“ Thirsk (Caleb Landry Jones) ein, der erst durch seine Frau Teil dieser Gemeinschaft geworden ist. Zu Gutsbesitzer Master Charles Kent (Harry Melling) hat Walt eine besondere Beziehung, sie rauften sich schon als Kinder (was später nochmal an Bedeutung gewinnt). Der Kartograf Quill (Arinzé Kene) ist der erste Eindringling, der zwar nur seinen Job macht, wie er selber sagt. Doch: Er ist die Vorhut des Wandels.

Wir erfahren in HARVEST zwar, wer die wirklichen Brandstifter sind, doch die unwissenden Bewohner strafen drei Fremde ab: Zwei Männer werden an den Pranger gestellt für sieben Tage. Und die dunkelhäutige Mistress Beldam (eine Entdeckung: Thalissa Teixeira) wird ihrer Haarpracht beraubt und gilt fortan als Freiwild. Doch sie kann flüchten. Diese archaische Geschichte hat auch einen aktuellen Bezug, das merken wir sofort. Traditionen und Bräuche sind wichtig, Eindringlinge unerwünscht!

Tsangari streut in ihrem ersten englischsprachigen Spielfilm immer wieder Horror-Elemente ein, die an mittelalterliche Praktiken erinnern: Der Pranger, in dem die zwei Fremden mit ihrem Kopf und ihren Armen stecken. Und es kommt auch zu blutigen Auseinandersetzungen mit Mensch und Tier. Allerdings wirkt dies zu unentschlossen, der Kultfilm „The Wicker Man“ (1973) von Robin Hardy und auch „Midsommar“ (2019) von Ari Aster binden folkloristischen Horror eindeutig besser ein. Vor allem: HARVEST ist über zwei Stunden lang, gefühlt noch länger! Ein Gedanke ist ständiger Begleiter: Ist das Kunst oder kann das weg?

Der US-amerikanische Schauspieler und Musiker Caleb Landry Jones konnte bereits in Luc Besson‘s „Dogman“ (2023) überzeugen und gewann für „Nitram“ (2021) sogar den Darstellerpreis in Cannes. Definitiv einer, auf den wir in Zukunft achten sollten! Und den Briten Frank Dillane kennen wir alle als 16-jährigen Tom Riddle aus „Harry Potter und der Halbblutprinz“ (2009). Nun erwachsen, verkörpert er in HARVEST Master Charles‘ Cousin Edmund Jordan, der in dem kleinen Dorf für einen grundlegenden Wandel sorgen möchte: Schafzucht ist das neue Ding!

Die griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari (schrieb zusammen mit der US-Amerikanerin Joslyn Barnes auch das Drehbuch) erzählt in HARVEST extrem sperrig von den ersten Ausläufern der industriellen Revolution. Sitzfleisch und Leidensfähigkeit sind vonnöten, um dieses immersive Filmerlebnis genießen zu können (halluzinogene Pilze spielen auch eine Rolle). Wer nicht vorzeitig aussteigt, wird von einem tollen Darstellerensemble (Rosy McEwen sei noch erwähnt, die u.a. in „Apartment 7A“, dem Prequel zu „Rosemaries Baby“, zu sehen ist) und teilweise prächtigen Bildern entschädigt. Caleb Landry Jones darf auch musikalisch auf der Tonspur des Films glänzen.

Trailer

ab16

Originaltitel

Harvest (Großbritannien / Deutschland / Frankreich / USA / Griechenland 2024)

Länge

134 Minuten

Genre

Drama / Western

Regie

Athina Rachel Tsangari

Drehbuch

Joslyn Barnes, Athina Rachel Tsangari, basierend auf dem Roman von Jim Grace

Kamera / Director of Photography (DOP)

Sean Price-Williams

Darsteller

Caleb Landry Jones, Harry Melling, Rosy McEwen, Arinzé Kene, Thalissa Teixeira, Frank Dillane

Verleih

MUBI

Filmwebsite

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