Der dritte Tag des Filmfests Hamburg ist für uns der erste Tag ohne Interviews, dafür aber gefüllt mit jeder Menge Filme. Dass dieser Tag seinen Abschluss mit einer weitere Perle des Festivals finden würde, war uns zu Beginn natürlich noch nicht klar.
Griechenland 2013 | 107 min | Regie: Yorgos Tsemberopoulos | Drehbuch: Yiannis Tsiros | Darsteller: Manolis Mavromatakis, Maria Zorba, Thanassis Papageorgiou, Ariadni Kavalierou, Elias Moulas, Vesela Kazakova | Produzent: Eleni Kossyfidou | Originaltitel: O ehthros mou
Inhalt
Kostas Stasinos betreibt ein Gartengeschäft in einem Vorort von Athen und führt mit seiner Frau und den beiden Teenagerkindern ein beschauliches Leben. Politisch stand der 48-Jährige zeit seines Lebens links, doch als eine maskierte Gang sein Haus überfällt, die Familie fesselt und die Tochter vergewaltigt, wirft er all seine ideologischen Ideale über Bord. Mithilfe einer Überwachungskamera bekommt Kostas die Identität der Täter heraus und nimmt die Verfolgung auf. Er entfesselt eine Spirale der Gewalt, die ihn und seine Familie immer tiefer in den Abgrund zu stoßen droht.
Kritik
Regisseur Yorgos Tsemberopoulos legt einen klassischen Rachethriller vor und zeigt uns, wie das Leben eines unbescholtenen Mannes aus den Fugen gerät. Leider zeigt der Film keine wirklich neue Sicht auf das Genre, auch wenn der Regisseur ihn als eine Art Parabel auf den zunehmenden Zerfall der gesetzlichen und moralischen Ordnung im gegenwärtigen Griechenland sieht. Bitte nicht falsch verstehen, der Film ist durchaus in Ordnung – aber wie ein Kollege nach der Vorführung treffend sagte: „Okay reicht uns hier einfach nicht“.
Kanada 2013 | 81 min | Regie: Jean-Nicolas Orhon | Drehbuch: Jean-Nicolas Orhon | Produzent: Christine Falco | Originaltitel: Bidonville: architectures de la ville future
Inhalt
Milliarden Menschen leben weltweit in Barackensiedlungen und Slums. Mit diesen verbinden wir gemeinhin unzumutbare Lebensumstände mit hoher Kriminalität und ohne sauberes Trinkwasser. Aber sind Slums gar nicht das Problem von übervölkerten Städten, sondern vielmehr deren Lösung? Der Film besucht informelle Siedlungen in Indien, Marokko, Frankreich, New Jersey und Québec und zeigt die Anpassungsfähigkeit und den Einfallsreichtum von Menschen, die ihre Behelfsbehausungen genau nach ihren Bedürfnissen bauen. Was bislang als unmenschlich galt, bekommt eine neue Perspektive: Das prekäre Provisorium als Beispiel für eine Gemeinschaft, die auf Kooperation und sozialer Mobilität basiert.
Kritik
Auch Dokumentationen finden beim Filmfest Hamburg einen Platz. Wir haben uns aus dieser Sektion diesen Film ausgesucht, da die Inhaltsangabe interessant klang. Leider jedoch hält der Film nicht, was er verspricht. Der Regisseur Jean-Nicolas Orhon führt uns in die verschiedensten Slum-Viertel der Welt, doch die versprochene Erklärung, warum er hierin die Zukunft des Städtebaus sieht, bleibt er uns schuldig. So bleibt SLUMS: CITIES OF TOMORROW zwar ein interessanter Einblick in die Elendsviertel der Welt, aber eben leider auch nicht mehr.
Schweden 2014 | 97 min | Regie: Maria Blom | Drehbuch: Maria Blom | Darsteller: Maria Sid, Johan Holmberg, Tina Råborg, Carl Jacobson, Isabelle von Saenger | Produzent: Lars Jönsson | Originaltitel: Hallåhallå
Inhalt
Disa und ihr Mann haben sich getrennt. Doch während er jetzt mit einer Jüngeren zusammen ist und sich komplett neu erfindet, ist Disa immer noch die alte: eine energische Mutter und Krankenschwester mit einem großen Herz und Hintern, die sich für ihr Umfeld aufopfert. Dann aber kommt auch endlich in ihr Leben Schwung: Mit einem liberalen Patchwork-Vater, der Kinder von zig unterschiedlichen Frauen hat und ihr zeigt, dass man auch noch ganz anders leben kann. Und mit einer miesepetrigen Patientin, die sie eine wichtige Lektion lehrt: Man sollte öfter mal nur an sich denken!
Kritik
Irgendwie haben die Skandinavier eine ganz eigene Art und Weise, eine Komödie mit ein wenig Sentimentalität zu verbinden. Im letzten Jahr wurde uns das durch die finnische Komödie 21 WAYS TO RUIN A MARRIAGE gezeigt und in diesem Jahr sind die Schweden an der Reihe. Der Regisseurin Maria Blom ist hier eine warmherzige und turbulente Komödie mit Mut zum Slapstick und zur Sentimentalität gelungen, die eigentlich einen deutschen Kinostart verdient hätte.
Wertung
3.5 / 5
Island 2014 | 130 min | Regie: Baldvin Zophoníasson | Drehbuch: Baldvin Zophoníasson, Birgir Örn Steinarsson | Darsteller: Þorsteinn Bachmann, Hera Hilmarsdóttir, Thor Kristjánsson, Valur Freyr Gunnarsson, Kristín Lea Sigrídardóttir, Sveinn Olafur Gunnarsson | Produzent: Ingvar Þórðarson, Júlíus Kemp | Originaltitel: Vonarstræti
Inhalt
Drei Geschichten von drei Menschen in Reykjavík: Einem Schriftsteller, der als junger Mann einen Bestseller geschrieben hat und nach der Scheidung von seiner Frau dem Alkohol verfallen ist. Einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem Gehalt als Kindergärtnerin nicht auskommt und heimlich anschaffen geht. Und von einem ehemaligen Fußballprofi, der zum Big Player bei einer Bank aufsteigt und dafür sein Familienleben und seine Integrität aufs Spiel setzt. Die drei Schicksale kreuzen sich und entwerfen zusammen ein düsteres Gesellschaftspanorama Islands am Vorabend der großen Finanzkrise 2008.
Kritik
Wow! Hier haben wir ihn, den wohl besten Film des diesjährigen Festivals. Kaum ein Film hat mich in letzter Zeit so sehr beeindruckt, wie LIFE IN A FISHBOWL. Dem Regisseur Baldvin Zophoníasson gelingt es, drei eindrucksvolle Geschichten zu erzählen, die allesamt in einer schockierenden Offenbarung enden. Am Ende des Filmes war mein werter Kollege etwas ungehalten und monierte, dass die Enthüllung am Schluss eigentlich überflüssig sei, weil sie in der Realität ja doch nicht wirklich so extrem vorkommen würde. Doch keine zwei Minuten später steht der Regisseur auf der Bühne und verrät uns, dass alles im Film auf wahren Begebenheiten basiert und der schockierende Schluss seiner eigenen Schwester passiert sei. Das verleiht dem Film noch einmal eine unheimlich Brisanz und führt dazu, dass es dem Zuschauer noch einmal die Kehle zuschnürt. Dass genau dieser Film aber dazu geführt hat, dass nach vielen Jahren in der Familie des Regisseurs diese Vorkommnisse überhaupt thematisiert werden, bringt dann zumindest ein wenig Genugtuung. Uns hat der Film so dermaßen fasziniert, dass wir uns am Folgetag spontan zu einem perönlichen Interview mit dem Regisseur getroffen haben. Dieses gibt es in Kürze auf dieser Seite zu lesen.
LIFE IN A FISHBOWL ist übrigens der isländische Oscar-Beitrag für den besten fremdsprachigen Film im kommenden Jahr. Mit dieser Konkurrenz wird es unser Beitrag – Dominik Grafs DIE GELIEBTEN SCHWESTERN – leider ziemlich schwer haben. LIFE IN A FISHBOWL war in diesem Jahr zudem der erfolgreichste Film in Island und hat selbst Blockbuster wie GODZILLA von der Spitze der Kinocharts vertrieben.
Dieser Film verdient einen deutschen Kinostart und wir hoffen, dass sich irgendein deutscher Verleih dazu bereit erklärt, den Film hierzulande zu zeigen. LIFE IN A FISHBOWL ist ein wahre cineastische Perle!
Wertung
5 / 5