Zwei Wochen in einer der schönsten Städte Europas und trotzdem verbringt man die meiste Zeit des Tages in dunklen Sälen? Da kann die Rede natürlich nur vom schottischen Edinburgh sein und dessen wunderbarem Festival. In diesem Jahr habe ich zum allerersten Mal am Edinburgh International Film Festival teilgenommen und wie soll ich es anders ausdrücken: Ich bin (immer noch) schwer geflasht. 45 Filme habe ich in insgesamt 13 Tagen sehen können und darunter waren erstaunlich wenig Fehlgriffe. Das spricht in erster Linie für die ausgezeichnete Programmgestaltung der Veranstalter, die ein schier unglaublich gutes Händchen für gute Filme zu haben scheinen. Selten habe ich auf einem Festival eine solch geballte Menge erstklassiger Filmkunst erleben dürfen.
Während die Interviews, die ich in Edinburgh führen durfte, noch ein wenig Zeit für die Umsetzung benötigen, möchte ich mit diesem Beitrag einmal kurz meine absoluten Highlights Revue passieren lassen. Diese sieben Filme müssen unbedingt einen deutschen Kinostart erhalten und ich hoffe inständig, dass sich die deutschen Verleihe dieser Perlen annehmen werden.
Großbritannien 2014, 89 Minuten, Regie: Joe Stephenson, mit Scott Chambers, Morgan Watkins, Yasmin Paige
Der fünfzehnjährige Richard (Scott Chambers) ist ein optimistischer Junge, der allerdings ein wenig lernbehindert ist. Zusammen mit seinem ruhelosen und aggressiven Bruder (Morgan Watkins) lebt er in einem heruntergekommenen Wohnwagen auf dem Land eines alten Hofes. Als sich Richard in die siebzehnjährige Annabel (Yasmin Paige) verliebt, stellt das die Beziehung der beiden Brüder auf die Probe. Letztendlich kommen Familiengeheimnisse ans Licht und das Leben schlägt für Richard einen neuen Weg ein.
Selten hatte ich bereits in den ersten Minuten eines Filmes das Gefühl, dass hier ein guter Film vor mir liegt. Aber eigentlich hat sich dieses Gefühl nie bis zum Abspann gehalten. Anders bei CHICKEN: Von der ersten bis zu letzten Minute ist dieser Film eine wahre Offenbarung in vielerlei Hinsicht. Die Darsteller sind schlichtweg umwerfend, die Kameraführung wundervoll und die Geschichte authentisch und zu Herzen gehend. Genau so sieht kleines großes Kino aus. Ich hoffe inständig, dass diese Perle einen Weg in die deutschen Kinos finden wird. Mehr zum Film gibt es in Kürze auf dieser Seite, denn ich durfte die beiden Hauptdarsteller und den Regisseur zum Interview treffen. (5/5)
http://www.youtube.com/watch?v=i3bU7zfKVxA
Irland 2015, 81 Minuten, Regie Mark Noonan, mit Aiden Gillen, Lauren Kinsella, George Pistereanu, Erika Sainte
Nach dem Tod ihrer Mutter kommt die elfjährige Stacey (Lauren Kinsella) zu ihrem Onkel Will (Aiden Gillen), der gerade aus dem Gefängnis kommt. Um mit der gemeinsamen Tragödie klar zu kommen, fährt Will mit Stacey in einen alten Trailerpark, in dem er als Kind die Urlaube verbracht hat. Doch ihre Chancen, dort häuslich zu werden, stehen unter keinem guten Stern, als langsam der Grund für Wills Verurteilung ans Licht kommt.
Die besten Filme begegnen einem immer, wenn man gar nicht damit rechnet. Die Erwartungen an YOU’RE UGLY TOO waren zwar bereits hoch, aber dass sich daraus dann eine solche filmische Perle entwickelt, damit war nicht zu rechnen. Regisseur Mark Noonan baut hier vollends auf seine beiden Hauptcharaktere und kann sich hundertprozentig auf dessen Strahlkraft verlassen. Gerade die junge Lauren Kinsella ist eine Offenbarung in ihrer Rolle als Stacey. Der Film zeigt weniger, was Menschen tun, sondern vielmehr, was sie nicht tun und wie man sich einander annähern kann, wenn man nicht in der Lage ist, seine Gefühle auszudrücken. Noonan legt eine fantastische Beobachtungsgabe an den Tag und liefert uns ein Porträt einer Familie, die erst noch sehr viel lernen muss. Ein wahres Meisterwerk. (5/5)
Update: YOU’RE UGLY TOO startet am 19.11.2015 in den deutschen Kinos.
Großbritannien 2015, Regie: Ludwig Shammasian und Paul Shammasian, mit James Cosmo, Ethan Cosmo, Andreas Evangelou, Sam Brown
James Cosmo legt in diesem Film eine wahre Tour de Force Performance als alternder Boxer, der über sein Leben und seine Karriere im Ring spricht. Er offenbart seine physischen, aber auch seine emotionalen Narben und erzählt davon, wie er versucht, sich mit seinem entfremdeten Sohn zu versöhnen.
Vollkommen in Schwarz-Weiss entfaltet THE PYRAMID TEXTS einen unfassbaren Sog, dem man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann. Ein einziger Schauplatz und ein eindrucksvoller Mime, mehr benötigt man nicht, um einen wunderbaren Film zu drehen. Das Script von Geoff Thompson – ursprünglich als Bühnenstück geschrieben – erfährt durch die Regisseur Ludwig und Paul Shammasian eine mehr als sehenswerte Inszenierung. (4,5/5)
Italien / Großbritannien 2014, 84 Minuten, Regie: Lorenzo Sportiello, mit Simon Merreils, Ana Ularu, Antonia Liskova, Velislav Pavlov
Der letzte Film des Tages stellt zugleich auch das Highlight des Tages dar. In den futuristischen Vereinigten Staaten von Europa, die einer Festung gleichen, wird der Wert eines jeden Menschen in einem sogenannten Nachhaltigkeitsindex festgelegt. Kurt (Simon Merells) und Eve (Ana Ularu) werden beim Versuch, die USE illegal zu betreten, festgenommen. Während Kurt als potentiell nachhaltig eingestuft wird, gilt sie Eve aufgrund ihrer Schwangerschaft als nicht aufnahmewürdig, schließlich sind natürliche Schwangerschaften schon seit vielen Jahren illegal. Nachdem beide getrennt werden, versucht Kurt verzweifelt und mit allen Mitteln, wieder zu Eve zu gelangen.
Der Regisseur Lorenzo Sportiello legt mit INDEX ZERO einen beeindruckenden Film vor, der die aktuelle Flüchtlingsproblematik in einer utopischen Darstellung zuspitzt. Wie viel ist ein Menschenleben wert? Wie viel dieser Utopie könnte Wirklichkeit werden, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen? Fragen über Fragen, die ich dem Regisseur, der sich im Übrigen auch für das Drehbuch, den Sound und die Special Effects verantwortlich zeigt, im Interview fragen durfte. Das Interview erscheint in Kürze auf dieser Seite. (4/5)
USA 2015, 87 Minuten
Diesen Film könnte man als so etwas wie den kleinen Bruder von EX MACHINA bezeichnen, denn beide erzählen von künstlichen Intelligenzen. Allerdings ist der Roboter hier männlich und die Wissenschaftlerin/Reporterin, die über ihn schreiben soll, weiblich. Beide Film mögen dieselbe Prämisse haben, doch UNCANNY bewegt sich letztendlich doch in eine andere Richtung, als zwischen Roboter und Schöpfer eine Rivalität und die Gunst der schönen Reporterin (überzeugen: Lucy Griffiths). Der Haupttwist mag ein wenig vorhersehbar sein, wenn man sich in diesem Genre ein wenig auskennt, trotzdem überrascht UNCANNY am Ende und ist somit ein sehenswerter Sci-Fi-Streifen, dem es mit einfachen Mitteln gelingt, eine wunderbare Atmosphäre aufzubauen. Über den Film habe ich noch mit dem Drehbuchautoren Shahin Chandrasoma sprechen dürfen. Mehr dazu hier in Kürze. (4/5)
Großbritannien 2015, 93 Minuten, Regie: Robert Carlisle, mit Robert Carlisle, Emma Thompson, Ray Winstone, Tom Courtenay, Ashley Jensen, Martin Compston
Barney Thompson (Robert Carlisle) ist Frisör in Glasgow und eigentlich eher von der zurückhaltenden Art. Als er irrtümlich und völlig unabsichtlich seinen Chef tötet, wendet er sich panisch an seine Mutter (eine unfassbare Performance von Emma Thompson).
Mit dieser wunderbar schwarzen Komödie wurde vor zwei Tagen das Film Festival hier eröffnet und das Team hätte dazu kaum einen besseren Film auswählen können. Robert Carlisle legt hiermit sein Regiedebut vor und am Ende fragt man sich, warum er das nicht schon viel früher getan hat. Der Film sprüht nur so vor irrwitziger Einfälle: “I label everything”, so Emma Thompson, nachdem sie den Leichnam zerstückelt und eingetuppert hat. Robert Carlisle überzeugt zudem als scheuer und zurückhaltender Frisör, der gewaltig unter der Fuchtel seiner Mutter steht. Bleibt zu hoffen, dass dieser Film seinen Weg in unsere Kinos findet. Verdient hätte er es in jedem Fall mehr, als so mach anderer der deutschen Kinostarts. (4,5/5)
Großbritannien 2015, 87 Minuten, Regie: Jake Garvin, mit Peter Mullan, Keith Allan, Natalie Gavin, Sarah Solemani, Ewan Stewart, Laurie Ventry, Stephen Tomkinson, Gina McKee
Der obdachlose Renter Hector McAdam ist ein Mann mit einer tragischen Vergangenheit. Seit vielen Jahren wandert er zwischen Raststätten umher, schläft unter Brücken und lebt vom Hand in den Mund. Als er jedoch von seinem früheren Leben eingeholt wird, wird langsam der Grund für seine selbst gewählte Obdachlosigkeit klar.
Ich muss zugeben, dass ich mich auf diesen Film bereits die ganze Woche gefreut habe. Die Stimmen der Weltpremiere vor einer Woche waren mehr als überragend. Leider passte der Film erst jetzt in meinen Filmplan, doch das Warten hat sich gelohnt. Peter Mullan legt hier eine eindrucksvolle Performance vor und zeigt und eine sympathische und erleuchtende Studie über die menschliche Zerbrechlichkeit. Der Regisseur Jake Garvin beobachtet mit HECTOR die Welt derjenigen Menschen, die sonst vor den Augen der normalen Bevölkerung verschwinden und zeigt, dass mitunter weit mehr hinter einem solchen Schicksal steckt, als man vermuten mag. HECTOR ist schlichtweg ein wunderbarer Film, der hoffentlich seinen Weg in die deutschen Kinos finden wird. (4,5/5)