Den südkoreanischen Meisterregisseur Park Chan-Wook kennen wir vor allem wegen seiner grandiosen und sehr blutigen Rache-Trilogie mit dem Mittelteil „Oldboy“ als Höhepunkt. Dass er auch die leisen Töne beherrscht, zeigt er uns in dem hintergründigen Thriller-Melodram DIE FRAU IM NEBEL. Hier lässt er sich viel Zeit, dem Zuschauer die merkwürdige Beziehung einer mysteriösen Frau und eines ratlosen Polizisten näher zu bringen. Man muss sich auf den extrem langsamen Rhythmus dieses Films einlassen, um dessen Faszinosum zu begreifen.
Als ihr Mann, ein leidenschaftlicher Amateur-Kletterer, bei dem Versuch, einen schwierigen Felsen zu bezwingen, zu Tode stürzt, gerät auch Song Seo-rae (Tang Wei) in den Kreis der Verdächtigen. Wollte sie mit ein bisschen Nachhilfe die Lebensversicherung ihres Mannes einkassieren? Schnell rückt für Kommissar Jang Hae-joon (Park Hae-il) diese rätselhafte Frau in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Song scheint sich emotionslos mit dem Tod ihres Mannes abzufinden, ihre offensichtliche Gefühlskälte irritiert sogar den erfahrenen Jang. Doch gleichzeitig ist er von der schönen jungen Frau fasziniert.
Da er seit Monaten mit seiner Schlaflosigkeit zu kämpfen hat, findet Jang die Zeit, Song Tag und Nacht zu beobachten. So sitzt er jede Nacht im Auto vor ihrer Wohnung und hofft auf ein Indiz, Song verhaften zu können. Dieses Katz-und-Maus-Spiel wird für Jang zur Manie, und Regisseur Park Chan-wook erlaubt sich hier einen „fiesen“ Trick: Denn plötzlich sitzt der Kommissar in der Wohnung der Verdächtigten. Das ist natürlich reine Fiktion – doch ein Schock für jeden Zuschauer. Langsam entwickelt sich aus der bizarren Beziehung eine zarte Liebesgeschichte, die Song eher spöttisch registriert und die der Regisseur nur in Andeutungen inszeniert. Hier gibt es keinen Sex – sondern nur scheue Blicke und unerfülltes Verlangen.
Bei einer Tatortbegehung auf dem Gipfel des Felsens schließen Jang und sein Assistent einen Selbstmord nicht mehr aus. War sich der Mann der Treue seiner Frau nicht mehr sicher und hatte er sich deshalb zu Tode gestürzt? Doch auch die Verhöre mit Song im Kommissariat führen nicht weiter. Die Amour fou tritt immer mehr in den Vordergrund – und die Krimi-Handlung gerät zunehmend zur Nebensache.
Bevor alles im Sande verläuft, überrascht uns der Regisseur mit einem raffinierten Zeitsprung: Jahre später treffen Jang und Song in einer anderen Stadt wieder aufeinander. Der Polizist muss erfahren, dass auch Songs zweiter Mann zu Tode gekommen ist, und die Ermittlungen beginnen von vorn…
DIE FRAU IM NEBEL ist ein Neo-noir-Mysterium voller Andeutungen und leiser Töne. Und eben kein klassischer Whodonit-Film! Eine Warnung: Das erschreckende Finale ist so verblüffend, dass wohl jeder Zuschauer total verstört den Kinosaal verlässt. Park Chan-Wook hat hier wieder mal beweisen, dass er ein Meister der besonderen Atmosphäre ist. Und die bei ihm sonst üblichen Gewaltszenen fehlen hier völlig.
P.S. Für DIE FRAU IM NEBEL erhielt Park Chan-Wook im vergangenen Jahr in Cannes die Silberne Palme für die beste Regie.
Decision to Leave (Korea 2022)
138 Minuten
Thriller / Drama
Park Chan-Wook
Chung Seo-Kyung, Park Chan-Wook
Tang Wei, Park Hae-Il, Lee Jung-Hyun, Go Kyung-Pyo, Park Yong-Woo, Jung Yi-Seo
Plaion Pictures GmbH