Wie entstehen unmerkliche Risse im zwischenmenschlichen Zusammenleben? Was ist die Wahrheit, wenn mehrere Personen eine scheinbar klare Situation unterschiedlich wahrnehmen? Wie reagieren wir Zuschauer auf den verstörenden ständigen Perspektivwechsel? Nach „Die Einsiedler“ hat sich der Südtiroler Ronny Trocker in seinem zweiten Spielfilm DER MENSCHLICHE FAKTOR große Themen vorgenommen. Und er macht es uns nicht leicht. Doch keine Angst: Dies ist kein trockener Thesenfilm, wie wir ihn besonders aus Deutschland leider allzu gut kennen, sondern ein raffiniertes Spiel mit den unterschiedlichsten Blickwinkeln, das unsere ganze Konzentration verlangt. Und es lohnt sich!
Nina (Sabine Timoteo) und Jan (Mark Waschke) sind ein modernes Ehepaar, das gemeinsam in einer westdeutschen Großstadt eine erfolgreiche Werbeagentur leitet. Mit ihren Kindern Emma (Jule Hermann) und Max (Wanja Valentin Kube) führen sie ein glückliches Familienleben. Aber müssen andauernd Züge vor den Fenstern ihrer Wohnung vorbei rattern? Als Jan, ohne Nina vorher zu fragen, den Werbeauftrag einer politischen Partei annimmt, tun sich erste Risse auf. Kritisch wird es, als die Bürofenster Ziel eines Farbbeutelanschlags werden.
Zur Entspannung fahren die vier fürs Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Kanalküste. Im Spätherbst ist die Saison zwar schon beendet, doch Ruhe gibt es genug. Als Jan im Supermarkt kurz vor Ladenschluss noch schnell Spaghetti kauft, wird der Rest der Familie zu Hause von Einbrechern überfallen. Was die drei zumindest behaupten. Nina hat sich vor Schreck an einer Tür gestoßen, und Max’ geliebte Ratte ist verschwunden – doch gestohlen wurde nichts. Ist das Ganze womöglich eine politisch motivierte Tat? Auch die belgische Polizei steht vor einem Rätsel.
Zurück in Deutschland wird klar, dass das Ereignis eindeutig Spuren hinterlassen hat. Nina will die Firma verlassen, und auch die Ehe scheint am Ende zu sein. Emma will als trotziger Teenager eigene Wege gehen, und Max tischt der Familie eine bizarre Geschichte auf: Beim Überfall hätte sein Vater vor dem Haus so lange gewartet, bis die Einbrecher weg waren. Was stimmt hier?
Der Zuschauer braucht eine gewisse Zeit, um die konsequent nicht chronologische Erzählweise zu durchschauen. Aber mit nur zwei Schauplätzen ist das Verständnis nicht allzu schwierig. Regisseur Ronny Trocker, der auch das Drehbuch geschrieben hat, liebt subtile Andeutungen – Ambivalenz ist hier sein bevorzugtes Stilmittel. Bis zum Schluss lässt er offen, was genau in Belgien passiert ist und warum dieser Überfall so extreme Auswirkungen auf das Eheleben hat. Gemeinsam mit Kameramann Klemens Hufnagl fängt Trocker die herbstliche Stimmung wunderbar einfühlsam ein – quasi als Spiegelbild der inneren Leere und Hilflosigkeit, ohne dies symbolisch zu überfrachten. Auch das gemeinsame kalte Bad in der Nordsee scheint nur ein kurzer Moment des Glücks zu sein.
Die ständig zweisprachig agierende Sabine Timoteo und Mark Waschke spielen diese „Szenen einer Ehe“ wunderbar unterkühlt. Hier zeigt sich, was Unterstatement auf der Kinoleinwand bedeutet – auch das ist große Schauspielkunst. DER MENSCHLICHE FAKTOR mag vom Titel her sperrig klingen – doch das Ergebnis überzeugt auf der ganzen Linie. Hier wird die Intelligenz des Zuschauers ernst genommen.
Human Factors (Deutschland / Italien / Dänemark 2021)
103 Minuten
Drama
Ronny Trocker
Ronny Trocker
Sabine Timoteo, Waschke, Jule Hermann, Wanja Valentin Kube, Hannes Perkmann, Daniel Séjourné
Farbfilm Verleih GmbH