Wenn sich die Menschenmassen aus den Kreuzfahrschiffen und Bussen durch Venedigs Strassen quetschen, verkriecht sich Giorgio, der alte Gondoliere in seiner Bar und fragt sich, wo die wohl alle zum Pinkeln hingehen. Tudi Sammartini setzt dann erst weit nach Mitternacht einen Fuß in die Innenstadt und schickt den Schiffen vom Dach ihres Hauses aus Verwünschungen hinterher, während die Reiseführerin Francesca den Leuten erklärt, dass ein Campo früher einmal als Treffpunkt der Nachbarschaft diente. Früher, als es hier noch Nachbarschaft gab.
Und da Herr Codato immer weiter leergeräumte Wohnungen und wunderschöne alte Palazzi begutachtet und verkauft, transportiert der Lastenfahrer Flavio auf seinem Boot immerfort die Möbel und Umzugskartons derer, die sich ihre Stadt nicht mehr leisten können und aufs Festland ziehen.
So leben die Überlebenden von Venedig, und um sie herum prunkt und zelebriert sich die grandiose Stadt in Novembernebeln, in hellblauer Hitze und an den goldenen Abenden. Wir sehen ihnen zu, freuen uns an ihrer Vitalität und ihrem Witz und begreifen erst allmählich, dass wir die Momentaufnahme einer langsamen, wohlkalkulierten Hinrichtung sehen, einem langen und erstaunlich unaufgeregten Abschied beiwohnen.
Am Ende wird Herr Codato eine bittere Bilanz seines Berufslebens ziehen, der Lastbootfahrer wird sich in einer Zweizimmerwohnung an der Autobahn wiederfinden und die zweiundachtzigjährige Tudi wird mit ihrem Weinhändler gegen die Kälte anstoßen und auf das, was bleibt.
In vielen Städten sieht die aktuelle Situation ähnlich aus: Immer mehr alteingesessene Bewohner müssen wegziehen, weil sie sich die ins Unermessliche steigenden Mieten nicht mehr leisten können. Fachleute nennen das Ganze Gentrifizierung und Betroffene eine Katastrophe. Doch nirgendwo auf der Welt scheint das Problem so groß zu sein, wie in der Lagunenstadt Venedig. Vor zwanzig Jahren lebten noch 125.000 Menschen in der Stadt, heute sind es 58.000, und es werden jedes Jahr etwa 2.000 weniger. Doch wie kann ein Stadt noch funktionieren, wenn sie nur noch von Tourismusdienstleistern bevölkert wird? Dieser Frage geht Regisseur Andreas Pichler in seinem Film DAS VENEDIG PRINZIP nach und zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft. Wirkliche Lösungsansätze bietet der Film allerdings nicht, doch genau das macht ihn so erschreckend – denn offenbar gibt es diese nicht einmal ansatzweise.
Das Venedig Prinzip (Deutschland 2012)
82 Minuten
Dokumentation
Andreas Pichler
Andreas Pichler
Real Fiction Filmverleih