22 Jahre nach seinem Debüt „Amores Perros“ hat der mexikanische, zweifache Regie-Oscar-Preisträger („Birdman“, „The Revenant“) Alejandro G. Iñárritu erstmals wieder in seiner Heimat gedreht. Seit 21 Jahren lebt er in den USA. Netflix gab ihm das Geld, um mit BARDO – DIE ERFUNDENE CHRONIK EINER HANDVOLL WAHRHEITEN einen der ungewöhnlichsten Filme der jüngsten Zeit umzusetzen.
Einen Monat lang können wir dieses Wunderwerk auf der großen Leinwand bewundern, bevor dann das Heimkino zuschlägt. Niemand sollte sich von der Länge (160 Minuten!) abschrecken lassen – dieses unglaubliche Kinoabenteuer ist ein atemberaubender, surrealistischer Bilderrausch, bei dem die Grenzen zwischen Traum und Realität ständig verschwimmen. (Zum Titel: „Bardo“ ist ein Begriff aus dem tibetanischen Buddhismus und beschreibt den Zustand zwischen den unterschiedlichsten Daseinsformen.)
In „8 ½“ hatte Federico Fellini etwas ähnliches versucht: Ein Regisseur in der Schaffenskrise reflektiert in assoziativen Bildern über sein bisheriges Leben. In BARDO ist es der mexikanische Dokumentarfilmer und Journalist Silverio (Daniel Giménez Cacho), der seit zehn Jahren mit seiner Familie in Kalifornien lebt. In den nächsten Tagen soll ihm in Los Angeles ein besonderer Journalisten-Preis überreicht werden. Bei einem Besuch in Mexiko-City will er vor dem großen Ereignis noch einmal seine alten Freunde treffen und ein paar Tage in seinem mexikanischen Haus verbringen. Dabei übermannen ihn die Erinnerungen an seine aufregende Vergangenheit vor allem als Dokumentarfilmer.
Zu Beginn dieser visuellen Reise sehen wir übergroße Schatten über eine mexikanische Wüstenebene gehen, dann sitzt ein weißbärtiger Mann in einem Vorortszug und hält dabei einen Plastikbeutel mit drei schwimmenden Axolotl in den Armen. Plötzlich platzt der Beutel, und die bizarr aussehende Molche zappeln auf dem Boden des Waggons. In der nächsten Szene sitzt der gleiche Mann, es ist Silverio, auf einem Krankenhausflur und wartet auf die Geburt seines ersten Kindes. Doch sein Sohn will, wie der Arzt im Kreißsaal erklärt, zurück in den Schoß seiner Mutter. Also wird er kurzerhand wieder zurückgesteckt. Absurder geht’s kaum! So verlassen Silverio und seine Frau Lucía (Griselda Siciliani) ohne geborenes Baby das Krankenhaus – doch Lucía schleppt dabei eine meterlange blutige Nabelschnur hinter sich her.
Auf surreale Szenen dieser Art müssen wir uns in den rund zweieinhalb Stunden einstellen, um überhaupt einen Zugang zu dieser Art Kino zu finden. In der spektakulärsten, und wahrlich unglaublichsten Szene erleben wir Silverio beim Cunnilingus mit seiner Frau, als plötzlich das ungeborene Baby aus der Vagina herausguckt. Wer glaubt denn so was?
Als Silverio in einem alten Kastell mitten in Mexiko-City einen hochrangigen US-Politiker trifft, der ihm eine Audienz beim Präsidenten im Oval Office anbietet, landen beide im historischen mexikanisch-amerikanischen Krieg wo sich die Soldaten einen blutigen Kampf liefern. Bald wir klar: In einem seiner Dokumentarfilme war dieser Krieg ein zentrales Thema.
Bei einer (überlangen) feuchtfröhlichen Party, die seine Freunde für den Ehrengast geben, gerät das Treiben außer Kontrolle, als Silverio seine ganz persönliche Feier erlebt. Scheinbar nur für ihn singt David Bowie seinen Hit „Let’s Dance“ – und Iñárritu filtert dabei alle Instrumente heraus, so dass wir den Sänger a cappella erleben. Welch eine tolle Sequenz über einen Mann, der hier in der Menge zu sich selbst findet!
Mitten in der Stadt fallen plötzlich die Menschen zu Boden. Bald ist Silverio umgeben von Leichen. (Diese offensichtliche Pandemie-Allegorie ist mir eine Spur zu aufdringlich geraten.) Doch dann folgt die wohl denkwürdigste Sequenz des ganzen Films, in dem Iñárritu den spanischen Genozid an den Ureinwohnern reflektiert. Mitten auf dem größten Platz der Stadt steigt Silverio auf einen gigantischen Berg voller toter Indios, um oben angekommen mit dem Konquistador Hernán Cortés zu debattieren. Iñárritu löst diese schreckliche Episode in verblüffender Manier auf, indem er das Ganze als „Film im Film“ inszeniert. Nach dem Wort „Cut“ steigen alle „toten“ Komparsen vom Gerüst herunter.
Die Fülle der Episoden hätte für drei Filme gereicht – doch wir möchten keine missen. Der überragende Kameramann Darius Khondji schuf mit seinen unvergleichlichen Bildern eine visuelle Wucht, die uns alle überwältigt und die lange nachwirkt. Hier haben sich zwei Filmschaffende auf gleicher Wellenlänge getroffen.
Am Ende wird aufgelöst, warum Silverio den Beutel mit den drei Axolotl hatte fallenlassen – ohne dies hier zu verraten. Wenig später hält seine Tochter Camila (Ximena Lamadrid) in seiner Abwesenheit bei der Feier in Los Angeles die Dankesrede. Und spätestens jetzt wird uns allen klar, was in den vergangenen zweieinhalb Stunden passiert ist.
Mit seinen vielen Traumsequenzen wirkt Iñárritus Film teilweise wie eine Hommage an seinen großen chilenischen Kollegen Alejandro Jodorowsky („The Holy Mountain“), anderes erinnert an Luis Bunuel oder Terrence Malick (besonders die Swimmingpool-Szene). Doch BARDO – DIE ERFUNDENE CHRONIK EINER HANDVOLL WAHRHEITEN ist ein komplett eigenständiger Film und dabei nie eklektisch. Ein Meisterwerk!
Bardo, Fals Chronicle of a Handful of Truths (Mexiko 2022)
160 Minuten
Komödie / Tragikomödie / Drama
Alejandro G. Iñárritu
Alejandro G. Iñárritu, Nicholás Giacobone
Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Solano, Luz Jiménez, Luis Couturier, Andrés Almeida, Clementina Guadarrama, Jay O. Sanders, Francisco Rubio, Fabiola Guajardo, Noé Hernádez, Ivan Massagué
Netflix