Bei der Preisverleihung auf der diesjährigen Berlinale waren nicht wenige überrascht, als die Präsidentin der Jury, Hollywood-Star Kristen Stewart, den Sieger des Festivals verkündete: Der Goldene Bär ging an den französischen Dokumentarfilm AUF DER ADAMANT von Nicolas Philibert. Schon ein halbes Jahr zuvor hatte ein Dokumentarfilm den Hauptpreis in Venedig gewonnen – und jetzt dies? Müssen wir uns als Kinogänger umgewöhnen?
Die französische Dokufilm-Ikone Nicolas Philibert beschreibt in AUF DER ADAMANT einen ungewöhnlichen Ort. Mitten in Paris liegt am Ufer der Seine das geräumige Holzschiff „Adamant“, das tagsüber als Anlaufstation für psychisch Kranke dient. Da der Regisseur auf jede Art von Kommentar verzichtet, ist dem Betrachter lange nicht klar: Wer ist hier Betreuer, wer ist Patient? Auf diesem Schiff werden Workshops angeboren: Mal- und Nähkurse, Musikunterricht, Marmeladenherstellung, ein Filmclub – und viele Gespräche.
Wir lernen die Protagonisten nur visuell kennen – Namen sind bekanntlich Schall und Rauch. So erleben wir einen selbstbewussten Mann, der wie ein Doppelgänger von Roman Polanski wirkt und von sich behauptet, dass er das Vorbild für die Hauptrolle in Wim Wenders’ „Paris, Texas“ war. Bizarrer geht’s kaum!
Manchmal wenden sich die agierenden Personen an den Kameramann oder den Regisseur und fragen den beiden Löcher in den Bauch. Doch sonst bleibt Regisseur Nicolas Philibert stumm: Die Hauptpersonen sind die Menschen auf dem Boot. Nur gelegentlich landen die Protagonisten auf dem Festland, um auf den Pariser Wochenmärkten abgelaufene Ware einzusammeln. Denn auf dem Schiff dreht sich (fast) alles ums Essen.
Dass sich Nicolas Philibert nicht verbal einmischt, ist ein großer Vorteil – ein Voice-Over-Kommentar hätte den Film kaputt gemacht. Außerdem behandelt er die psychisch Kranken nicht als „Kranke“ – hier behält jedes Individuum seine Personalität. Wir erleben Menschen, die trotz ihrer Handicaps die Chance nutzen, sich auf der „Adamant“ wohl zu fühlen. Möge diese Institution lange erhalten bleiben! (Dass der Film während der Pandemie gedreht wurde, sieht man an den allgegenwärtigen Mundschutz-Masken.)
Eines ist schade: Regisseur Nicolas Philibert nutzt die ungewöhnliche Location nur selten – die Seine und das Schiff werden thematisch kaum genutzt. Trotzdem: ein ungewöhnlicher, sehr intensiver Dokumentarfilm – aber musste es gleich der Goldene Bär sein?
(Frankreich / Japan 2022)
109 Minuten
Dokumentation
Nicolas Philibert, Linda De Zitter
Nicolas Philibert
Grandfilm GmbH