2014 war der Film „Les Loups“ (Die Wölfe) der frankokanadischen Regisseurin Sophie Deraspe einer der Höhepunkte des damaligen Filmfestes Hamburg. Natürlich war jeder neugierig auf ihr neues Werk, das als Kanadas diesjähriger Beitrag für den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film nominiert war. „Antigone“, eine sehr freie Bearbeitung des Dramas von Sophokles, ist ein absolutes Meisterwerk, das jeden Filmliebhaber atemlos zurücklässt. Es klingt vielleicht pathetisch, aber „Antigone“ ist ein Meilenstein des Jahrzehnt. Es bleibt zu hoffen, dass der Film bei uns einen Verleih findet.
Vorlage für Deraspe, die auch das Drehbuch schrieb, bildet nicht nur das Stück des antiken Griechen sondern auch die Bearbeitungen vom Jean Anouilh und Bertolt Brecht. Deraspe verlegt die Handlung in das Kanada von heute. Die 16-jährige Algerierin Antigone (eine Offenbarung: Nahéma Ricci) landet nach der Ermordung ihrer Eltern mit ihrer Großmutter, ihrer älteren Schwester Ismene und ihren zwei Brüdern als Flüchtling in einer Sozialwohnung in Montreal. Sie sammelt Bestnoten in der Schule, ihre Schwester strebt die bürgerliche Karriere als Friseurin an – doch ihre Brüder landen auf der schiefen Bahn, in einer Gang von lokalen Kriminellen. Bei einer Razzia wird einer ihrer Brüder erschossen, der andere verhaftet. In einer Verzweiflungstat, um ihre Familie zu retten, schneidet sich Antigone ihre Haare ab und tauscht im Gefängnis die Identität mit ihrem Bruder, um ihm die Flucht zu ermöglichen. Nach der Aufdeckung des Coups wird Antigone zum Star der sozialen Medien.
In ihrer eigenwilligen und mutigen Ästhetik verzahnt die Regisseurin immer wieder das Alte mit dem Neuen. Bei Sophokles ergänzt der Chor die Handlung in sperrigen Reimen. Sophie Deraspe findet eine elegante Variante: Mehrmals kommentieren grelle, meist gezeichnete Video-Clips im Stil moderner Comics die Story. Wir müssen erleben, wie Antigone fast daran zerbricht, ihre Familie zusammenzuhalten – zumal ihr befreiter Bruder seine Chance nicht genutzt hat. Unterstützung findet sie bei ihrem Schulfreund und dessen Vater und bei ihrer Großmutter, die sich zu einer Heldentat aufrafft. Bei Sophokles wird Antigone lebendig eingemauert, Sophie Deraspe gönnt uns – trotz offenen Endes – einen Funken Hoffnung. Ein Film für die Ewigkeit!