Die frischgebackene französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux hatte sich 1972 gemeinsam mit ihrem Mann Philippe eine Super-8-Kamera gekauft, um ihre Reisen zu ungewöhnlichen Orten, aber auch die Urlaube mit ihren beiden jungen Söhnen zu dokumentieren. Das klingt zunächst nicht besonders aufregend, wenn wir jetzt die restaurierten Kurzfilme voller verwackelter Einstellungen und verwaschener Farben im Kino bewundern dürfen.
Doch ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE ist kein gewöhnlicher Dokumentarfilm. Mögen manche Szenen auch ziemlich beliebig aussehen – nicht noch ein Urlaubs-Dia-Abend im Partykeller des befreundeten Nachbarn –, dieser (nur 63 Minuten lange) Film ist anders. Das Besondere: Die Schriftstellerin hat die Bilder komplett mit einem poetischen Kommentar unterlegt, den sie selbst per Voice-over einspricht. Dazu Annie Ernaux: „Bei der Sichtung unserer Super-8-Filme kam mir der Gedanke, dass sie nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch ein Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968 darstellen. Ich wollte diese stillen Bilder in eine Geschichte einbinden, die die Vertrautheit mit dem Sozialen und der Geschichte kombiniert, um den Geschmack und die Farben dieser Jahre zu vermitteln.“
Und genau diese Poesie und Doppelbödigkeit kommt in ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE wunderbar zum Tragen. Hier hat es eine Frau geschafft, scheinbar belanglosen Bildern eine zweite Ebene zu geben, so dass wir gebannt ihrem Monolog zuhören. Die Szenen bekommen so eine ungewöhnliche Tiefe – und das schafft nur eine geniale Schriftstellerin.
Neun Jahre lang – von 1972 bis 1981 – stand Annies Ehemann Philippe hinter der Kamera und filmte alles – mochte es noch so unbedeutend sein. Er beobachtete die zaghaften ersten Schreibversuche seiner jungen Frau, die sich als Lehrerin und Mutter nicht ausgelastet fühlte, und die Urlaubsspäße der beiden Jungs. Nach der Trennung des Ehepaares verstaubten die Filme in irgend einem Umzugskarton, ehe einer der Söhne, David Ernaux-Briot, die Schätze entdeckte und seine Mutter überredete, daraus mit ihm einen Kino-Dokumentarfilm zu machen.
Was diese Bilder so besonders macht: Sie zeigen eben nicht nur den Alltag in Annecy, Urlaubsszenen aus den Bergen und am Strand – sondern auch die ungewöhnlichen Reisen des politisch interessierten, linken Ehepaares: in die UdSSR, nach Albanien (!) und in das Chile von Salvador Allende. In der UdSSR wurden die beiden ziemlich gegängelt, im damals völlig exotischen Albanien spürten sie dagegen einen Hauch von Freiheit.
Anfang des Jahres lief der Venedig-Sieger „Das Ereignis“ von Audrey Diwan nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux über ihre damals illegale Abtreibung in den 1960er-Jahren in unseren Kinos – dieser Film ist jetzt das poetische Gegenstück. Man muss sich auf die Bilder und den Text einlassen – es lohnt sich.
Les Années Super 8 (Frankreich 2022)
63 Minuten
Dokumentation
David Ernaux-Briot
David Ernaux-Briot
Film Kino Text – Jürgen Lütz eK