Dass ein armenischer Film des US-amerikanischen Schauspielers Michael Goorjian für dessen Regiedebüt AMERIKATSI beim 30. Filmfest Hamburg den Publikumspreis gewann, war DIE Sensation des Festivals. Und diese unkonventionelle Tragikomödie hatte diese Ehrung völlig verdient. Ein überwältigendes Debüt – und der Regisseur nahm die Ovationen des Publikums persönlich in Empfang.
Nach dem Genozid der armenischen Minderheit durch die Türken in und nach dem Ersten Weltkrieg – schon Fatih Akin behandelte dieses schreckliche Thema in seinem Melodram „The Cut“ – wurden die Exil-Armenier in alle Winde verstreut. So auch Michael Goorjians Großvater, dessen ungewöhnliche Geschichte der Regisseur in AMERIKATSI erzählt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ermunterte Stalin die armenische Diaspora in den USA, in ihre Heimat zurückzukehren – schließlich gehörte Armenien damals zum Staatenbund der UdSSR. Viele Ahnungslose nahmen dieses Angebot ernst – so auch der Kalifornier Charlie (Michael Goorjian übernahm auch die Hauptrolle), der als kleiner Junge den Genozid knapp überlebt hatte. So landet der in den USA beruflich Gescheiterte kurz nach dem Krieg im krisengeschüttelten Armenien, ohne ein Wort der Landessprache zu verstehen, geschweige denn zu sprechen. Bei einem Aufruhr rettet er einem kleinen Jungen das Leben – wofür ihm dessen Mutter ewig dankbar ist. Sie überredet ihren Mann, einen hochrangigen russischen Besatzungsoffizier, sich für Charlie einzusetzen.
Doch der arrogante Russe denkt nicht daran, und so landet Charlie nach einem – sprachlich bedingten – falschen Schuldbekenntnis im Knast: 20 Jahre Haft, nur weil er weder armenisch noch russisch spricht und zwei Wörter verwechselt hatte. Die erste Zeit in der Einzelzelle ist erniedrigend – schlechtes Essen, kein Kontakt, kaum Ausgang, ständige Folter und Hass von allen Seiten. Doch als bei einem Erdbeben ein Teil der Gefängnismauer einstürzt, ändert sich alles: Plötzlich kann er von seinem Zellenfenster aus in eine Wohnung blicken und am Leben eines Paares teilnehmen – ohne die Frau oder den Mann kontaktieren zu können.
Dieser Blick in eine fremde Welt gibt ihm neuen Lebensmut. Als hätte ihm Alfred Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“ das Rezept für diesen Film gegeben, sehen wir das Leben der anderen nur aus Charlies Sicht: Die Kamera bleibt die ganze Zeit in seiner Zelle. (Bis auf eine Ausnahme, deren Pointe ich hier nicht verrate.) Er erfährt, dass der Ehemann ein verfemter Maler ist, und dass dessen Ehefrau ihn nur rettet, indem sie die Malutensilien in einer Kammer einschließt. Durch Zufall entdeckt Charlie das Versteck des Schlüssels und kann dem Maler, der inzwischen auf einem der Wachtürme des Gefängnisses arbeitet, den entscheidenden Hinweis geben. Aus Dankbarkeit wird Charlie in seiner Zelle ein üppiges Mahl serviert.
Trotz aller satirischer Überzeichnung ist AMERIKATSI in erster Linie ein zu Herzen gehendes Melodram, das bei der Hamburger Aufführung wohl alle Kinozuschauer begeisterte und erschütterte. Beim anschließenden Q & A erzählte Michael Goorjian, der immer noch kein Wort armenisch spricht, von den nervenaufreibenden Dreharbeiten während der Pandemie. Zwei Monate lang saß er mit seinem kleinen Team in Armenien fest. Nach der Lockerung drehte er zunächst alle Szenen in der engen Zelle. Wie Goorjian diese Hauptrolle des Charlie angelegt hat, der trotz Folter nie seinen Lebensmus verliert, ist schlichtweg sensationell. Es ist nie leicht, sich selbst zu inszenieren – doch hier stimmt alles. Hoffen wir, dass dieser Film bald einen deutschen Verleih findet.