Nicht wenige waren überrascht, als Jury-Präsident M. Night Shyamalan am Ende der diesjährigen Berlinale bekannt gab: Der Goldene Bär geht an ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE von Carla Simón. Ein zwei Stunden langer Film im Stil des Neorealismus über Pfirsichbauern in einem katalanischen Dorf, gedreht mit Laiendarstellern und (uns) unbekannten lokalen Schauspielern – kann das gutgehen?
Der Zuschauer braucht viel Muße, um die Geschichte der Großfamilie Solé zu verfolgen. Doch die Regisseurin und ihre kongeniale Kamerafrau Daniela Cajías schaffen es, dass uns diese 120 Minuten nie langweilig werden. Der raue visuelle Stil passt so wunderbar zu der kargen Landschaft, in der die Familie um ihre Existenz kämpft.
Seit 80 Jahren baut die Familie Solé in dem Ort Alcarràs Pfirsiche an. Ein unscheinbares Flachdachhaus mit Swimming Pool im Garten und jede Menge Pfirsichbäume rundherum – mehr braucht die Familie nicht zum Leben. Doch ihre Tage sind gezählt: Damals hatte der Großgrundbesitzer Pinyol den Solés das Land per Handschlag überlassen – als Dank für seine Rettung im Spanischen Bürgerkrieg. Aber von diesem Handschlag will der Pinyol-Enkel nichts mehr wissen. Auf dem Gelände will er eine riesige Fotovoltaik-Anlage errichten. Jeden Tag muss der 80-jährige Opa Solé die finsteren Blicke seiner Nachkommen ertragen: Warum hast du damals keinen schriftlichen Vertrag gemacht?
Und so beginnt die letzte Ernte. Probleme mit der Wasserversorgung und unzuverlässigen Erntehelfern sind das tägliche Los der Familie. Zudem kämpfen die Bauern der Genossenschaft um einen gerechten Gegenwert für ihre Produkte, doch die lokalen Supermärkte drücken die Preise. Also gibt es eine spontane Demonstration, bei der schon mal die Pfirsiche fliegen. Doch es hilft alles nichts: Am Ende kommen die Bagger und vernichten die Obstbäume. Ein trauriger Anblick!
Was den Film so sympathisch macht: Man spürt in jeder Sekunde die Liebe der Familienmitglieder füreinander. Das gemeinsame Essen ist immer der wichtigste Teil des Tages – hier werden Sorgen und Nöte geteilt. Und der Spaß! Die harmlosen Spiele der Kinder in einem Autowrack, die Discobesuche der Teenager, der vergebliche Versuch von Opa Solé, den Pinyol-Enkel doch noch umzustimmen. Diesen Lebensrhythmus haben wir nach zwei Stunden in unser Herz geschlossen. Doch: Die Regisseurin Carla Simón und ihr Co-Drehbuchautor Arnau Vilaró haben sich in meinen Augen bei der Vielfalt der Episoden etwas zu sehr verzettelt – da bleibt manches unaufgelöst in der Luft hängen. Aber so ist das Leben! ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE ist für mich nicht unbedingt ein Berlinale-Sieger, aber ein schöner Film. „Heimat“ von Edgar Reitz hatte uns damals alle begeistert – hier erleben wir das Ende von Heimat aus iberischer Sicht.
P.S. Wer keine Angst vor Untertiteln hat, sollte sich den Film im originalen Katalanisch anschauen. Authentischer geht’s nicht!
Alcarràs (Spanien / Italien 2022)
120 Minuten
Drama
Carla Simón
Carla Simón, Arnau Vilaró
Josep Abad, Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín, Albert Bosch, Xènia Roset, Ainet Jounou, Montse Oró, Carles Cabós, Joel Rovira, Isaac Rovira, Berta Pipó, Elna Folguera, Antònia Castells, Djibril Casse, Jacob Diarte
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